Kirchen (Baden-Württemberg)

Datei:Efringen-Kirchen in LÖ.svg Kirchen ist heute ein Teil der derzeit ca. 8.600 Einwohner zählenden Kommune Efringen-Kirchen im Landkreis Lörrach – nur wenige Kilometer nördlich vom schweizerischen Basel gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Lörrach', Hagar 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts erreichte die Zahl der jüdischen Bewohner in Kirchen ihren Zenit; zeitweilig war jeder 6.Dorfbewohner mosaischen Glaubens.

Im Jahr 1736 kamen die ersten Juden - vier Brüder mit Namen „Bloch“ - von Dornach und Arlesheim (Kanton Solothurn) ins Dorf. Sie hatten wegen ständiger Querelen mit ihrer Herrschaft dort ihre Wohnsitze verlassen und waren vom badischen Markgrafen aufgenommen worden. So wurden die Wurzeln der jüdischen Gemeinde in Kirchen gegen Mitte des 18.Jahrhunderts gelegt.

Wegen des Widerstandes der Ortsgemeinde gegen weitere jüdische Ansiedlung blieb die Zahl der jüdischen Familien bis gegen Ende des 18.Jahrhunderts nahezu konstant. Die ökonomische Lage der Juden in Kirchen war bis weit ins 19.Jahrhundert hinein schlecht; der Handel mit meist agrarischen Produkten brachte nur so viel ein, dass sie pünktlich ihr Schutzgeld zahlen und ihren allernotwendigsten Lebensunterhalt bestreiten konnten.

Ihre Verstorbenen begrub die Kirchener Judenschaft zunächst auf dem jüdischen Friedhof in Lörrach* (*andere Angabe: im elsässischen Hegenheim); im Jahre 1865 wurde im Gewann „Kehlacker“ eine eigene Begräbnisstätte angelegt.

Nachdem Gottesdienste zunächst in einem Privathaus und dann in einem angemieteten Betsaal abgehalten worden waren, errichtete die jüdische Gemeinde 1831 einen Synagogenneubau. Über dem Eingangsportal war die Inschrift „Dies ist das Tor zum Herrn, Gerechte ziehen durch es hinein“ angebracht.

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historische Ortsansicht (um 1910) - Synagoge fast verdeckt im Hintergrund des Gasthauses "Rebstock" (Abb. Edward Victor, aus: commons.wikimedia.org, CCO)

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Synagoge von Kirchen in Bildmitte und Innenansicht (hist. Aufn., aus: Hundsnurscher/Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden)

Neben dem Synagogengebäude befand sich das jüdische Schulhaus; im Keller war eine Mikwe eingerichtet. Die Besetzung der Lehrerstelle war einem häufigen Wechsel unterworfen.

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Stellenausschreibungen für einen jüdischen Lehrer aus der Zeitschrift "Der Israelit" von 1870, 1878 und 1900

Die Kirchener Gemeinde gehörte bis an ihr Ende zu den religiös-konservativen jüdischen Gemeinden; das alltägliche Leben verlief hier nach strengen rituellen Vorschriften.

1827 wurde die jüdische Gemeinde dem Rabbinatsbezirk Sulzburg zugewiesen; nach dessen Verlegung (1886) gehörte sie fortan dem Rabbinatsbezirk Freiburg an. 

Juden in Kirchen:

         --- 1738 ..........................   5 jüdische Familien,

    --- 1785 ..........................   8     “        “   ,

    --- 1810 ..........................  60 Juden,

    --- 1825 ..........................  68   “  ,

    --- 1842 .......................... 123   “  ,

    --- 1848 .......................... 147   “   (14,5% d. Dorfbev.),

    --- 1873 .......................... 192   “  ,

    --- 1880 .......................... 160   “  ,

    --- 1895 .......................... 138   “  ,

    --- 1900 .......................... 102   “  ,

    --- 1905 ..........................  86   “  ,

    --- 1925 ..........................  66   “   (6,8% d. Dorfbev.),

    --- 1933 ..........................  63   “  ,*        * incl. Efringen

    --- 1936 ..........................  52   “  ,

    --- 1939 ..........................  31   “  ,

            (Dez.) ....................   2   “  ,

    --- 1940 ..........................   keine.

Angaben aus: Axel Huettner, Die jüdische Gemeinde von Kirchen 1736 - 1940, S. 238

 

Die höchste Zahl jüdischer Bewohner wurde um 1870 mit fast 200 Personen erreicht; danach setzte eine starke, wirtschaftlich motivierte Abwanderung ein. Neben Basel zog auch die nahegelegene Stadt Lörrach mit ihrer prosperierenden Textilindustrie Kirchener Juden an. Um die Jahrhundertwende war aus der jüdischen Gemeinde von Kirchen eine kleine Gemeinschaft älterer Menschen geworden, der es wirtschaftlich relativ gut ging: sie verfügte über Grundbesitz und betrieb Viehhandel und meist noch eine kleine Landwirtschaft.

Vom reichsweit angeordneten Boykott jüdischer Geschäfte am 1.4.1933 waren in Kirchen nur drei kleine Geschäfte betroffen; die anderen Kirchener Juden betrieben keine Ladengeschäfte, sondern zogen als Viehhändler übers Land. Trotz der sich verschärfender antijüdischen NS-Maßnahmen verließen bis 1936 nur vier Familien ihr Heimatdorf; erst ihr Ausschluss aus dem Wirtschaftsleben und damit der Entzug ihrer Lebensgrundlage erhöhte die Emigrationsquote deutlich; zunächst waren der Elsass und die Schweiz bevorzugte Ziele. 1938 emigrierten dann die meisten Kirchener Juden, vornehmlich in die USA. Während des Novemberpogroms wurden die Synagoge und das danebenstehende Schulgebäude schwer beschädigt; Täter waren auswärtige SA- bzw. SS-Angehörige unter Führung des Haltringer Bürgermeisters. Die jüdischen Bewohner trieb man aus ihren Wohnungen; die Männer wurden auf Lastwagen verladen und ins KZ Dachau verfrachtet, wo sie einige Wochen verblieben.

Aus dem „Oberbadischen Volksblatt”:

Kirchen, 12.November.  Aus Empörung über die feige Mordtat in Paris wurde auch die hiesige Synagoge zerstört. Die in der Synagoge aufbewahrten Bücher und Schriften wurden beschlagnahmt. Es wurden bei der Durchsuchung zwei Schächtmesser vorgefunden, welche nach dem Gesetz seit dem Schächtverbot schon hätten abgeliefert sein müssen. Die noch hier wohnenden männlichen Juden wurden in Schutzhaft genommen.

Bei Kriegsbeginn wurde die gesamte Zivilbevölkerung der in Rheinnähe gelegenen Markgräfler Dörfer evakuiert; drei Monate später kehrten die Dorfbewohner zurück - allerdings nicht die jüdischen Bewohner; diese mussten zumeist in Konstanz leben. Von hier aus wurden sie im Oktober 1940 ins Lager nach Gurs deportiert; zwei Jahre später wurden 14 Kirchener Juden von hier nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 32 gebürtige Kirchener Juden (andere Angabe: 29 Pers.) Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/efringenkirchen_synagoge.htm).

 

Nach 1945 wurden die Ruinenreste des Synagogengebäudes abgetragen. 

Auf dem jüdischen Friedhof in Kirchen-Efringen erinnert seit 1966 eine Gedenktafel an die jüdischen Opfer der NS-Verfolgung. Auf einer Metalltafel sind - unter einem siebenarmigen Leuchter - die Namen der Opfer aufgeführt. Anfang der 1980er Jahre wurde an der Außenmauer des Friedhofeinganges eine Tafel angebracht; sie trägt die Worte: „Der Busch brannte im Feuer und wurde doch nicht verzehrt (2.Mose 3,2)“ und den Text:

Dem Gedenken der jüdischen Mitbürger und ihrer Synagoge zu Kirchen

Die Bürger der Gemeinde Efringen-Kirchen

Eingang zum jüdischen Friedhof (Aufn. Zieglhar 2923, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

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 ältere und abgeräumte Grabsteine des jüdischen Friedhofs in Kirchen (Aufn. J. Hahn, 2003)

Der jüdische Friedhof hat die NS-Zeit weitestgehend unbeschädigt überstanden, wurde aber 1965 von unbekannten Tätern geschändet: mehr als 70 Grabsteine wurden umgestürzt und Namenstafeln zerstört. Zu weiteren Schändungen kam es in den 1970er Jahren.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2051/Efringen-Kirchen%20Synagoge%20190.jpg Seit 1988 erinnert eine Tafel unweit der ehemaligen Synagoge (Aufn. J. Krüger, 2004) an die Geschichte der jüdischen Gemeinde Kirchens; der Inschriftentext lautet:

Zum GEDENKEN

Nur ca. 30 m östlich stand die 1831 erbaute Synagoge unserer jüdischen Gemeinde.

Am 9.November 1938 wurde dieses Gotteshaus geschändet, verwüstet und später abgetragen.

Von 1736 bis in die Jahre nach 1933 lebten in Kirchen Juden und Christen in friedlicher Gemeinschaft miteinander.

Ab 1933 begann für unsere jüdischen Mitbürger der Weg der Verfolgung, Leiden und Tod.

Im Gedenken an sie und die Schändung ihrer Synagoge

die Bürger der Gemeinde Efringen-Kirchen

im Mai 1988

         

       Mitglieder der evangelischen Jugend Efringen-Kirchen gestalteten im Rahmen des ökumenischen Projektes in Erinnerung an die Deportation der badischen Juden einen Memorialstein, der - gefertigt von einem Steinmetzbetrieb - am Zugang zum jüdischen Friedhof sich befindet (Aufn. Zieglhar 2923, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0); dessen Doublette steht auch auf dem Gelände der zentralen Gedenkstätte in Neckarzimmern.

 

Die schon jahrelang diskutierte Verlegung von sog. „Stolpersteinen“ wurde 2023 durch einen definitiven Beschluss der Kommunalvertreter positiv beschieden und damit den Weg frei gemacht, nun zeitnah „Stolpersteine“ im Ort zu verlegen. Ein Arbeitskreis befasste sich intensiv mit der Thematik und dokumentierte die Schicksale der NS-Opfer. Die ersten acht messingfarbenen Gedenkquader wurden im Oktober 2023 in die Gehwegpflasterung eingelassen: fünf Steine für Angehörige der Familien Bräunlin/Olesheimer/Weil (Friedrich-Rottra-Str.) und drei für die Familie Bloch (Basler Str.). - Die Verlegung weiterer Steine für "Euthanasie"-Opfer soll in naher Zukunft erfolgen.

verlegt in der Basler Str. (Abb. aus: stolpersteine-effringen-kirchen.de)

 

 

 

Weitere Informationen:

Albert Eisele/Fritz Schülin, Efringen-Kirchen. Beiträge zur Orts-, Landschafts- und Siedlungsgeschichte, o.O. 1962

Ludwig Kahn, Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden von Hegenheim (Elsaß), Kirchen, Müllheim und Sulzburg (Baden), in: "Jüdischer Taschenkalender der israelitischen Fürsorge Basel", 1963/1964

F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 70 - 72

Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 313/314

Barbara Döpp (Bearb.), Der jüdische Friedhof in Efringen-Kirchen, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1992

Axel Huettner, Die jüdische Gemeinde von Kirchen 1736 - 1940. 200 Jahre jüdische Geschichte im Markgräflerland, Hrg. Gemeinde Efringen-Kirchen, Selbstverlag, Wollbach, 3.Aufl.1993

Verena Alborino, Juden auf dem Land: Das Dorf Kirchen, in: "Markgräfler Land", 1/1996, S. 127 - 137

Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 98 – 100

Efringen-Kirchen, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie und zahlreiche Aufnahmen vom jüdischen Friedhof)

N.N. (Red.), Efringen-Kirchen. Stolpersteine gegen das Vergessen, in: „Markgräfler Tageblatt“ vom 11.11.2014

Efringen-Kirchen: „Die Juden waren im Dorf integriert“, in: „Badische Zeitung“ vom 6.9.2016

N.N. (Red.), Die jüdische Gemeinde in Kirchen, in: „Weiler Zeitung" vom 2.9.2020

Reinhard Cremer (Red.), Efringen-Kirchen. Die Kichener und die Juden, in: "Weiler Zeitung“ vom 6.9.2020

Jutta Schütz (Red.), Stolpersteine sollen an jüdische Bürger erinnern, in: „Badische Zeitung“ vom 8.4.2022

Moritz Lehmann (Red.), Wie soll in Efringen-Kirchen an NS-Opfer erinnert werden? in: „Badische Zeitung“ vom 4.6.2022

Yvonne Siemann (Red.), Neuer Arbeitskreis setzt sich für Stolpersteine in Efringen-Kirchen ein, in: „Badische Zeitung“ vom 14.7.2022

Victoria Langelott (Red.), Efringen-Kirchen. Ein neuer Arbeitskreis möchte mit Stolpersteinen an Nazi-Opfer erinnern, in: „Badische Zeitung“ vom 29.9.2022

Ulrich Senf (Red.), Gedenken. In Efringen-Kirchen könnten bis zu 50 Stolpersteine verlegt werden, in: „Badische Zeitung“ vom 20.6.2023

sif (Red.), Efringen-Kirchen - „Opfern den Namen zurückgeben“, in: „Die Oberbadische“ vom 25.8.2023

Ulrich Senf (Red.), In Efringen-Kirchen werden die ersten Stolpersteine verlegt, in: „Badische Zeitung“ vom 14.9.2023

Ulrich Senf (Red.), Efringen-Kirchen steht zwei Tage im Zeichen der Stolpersteine, in: „Badische Zeitung“ vom 27.10.2023

Daniel Hengst (Red.), Efringen-Kirchen – Jede Erinnerungskultur ist wichtig, in: „Die Oberbadische“ vom 8.11.2023

Ines Bode (Red.), Efringen-Kirchen. AK Stolpersteine hat noch viel vor, in: „Die Oberbadische“ vom 6.12.2023